27

 

Kalter Schweiß rann von Ben Sullivans Nacken herab, als er die erste Probe der neuen Crimsonproduktion fertiggestellt hatte. Er hatte nicht gelogen, als er sagte, er hätte die Formel nicht im Kopf. Er gab sein Bestes, um die Droge in der absurd kurzen Zeit, die man ihm zugestanden hatte, neu zu entwickeln. Eine knappe halbe Stunde vor Ablauf des Ultimatums sammelte er eine Dosis der rötlichen Substanz und trug sie hinüber zu seiner Testperson. Der junge Mann in den schmutzigen Jeans und dem Harvard-Sweatshirt hing kraftlos in den Fesseln, die ihn auf einem Bürostuhl hielten. Sein Kopf war tief gebeugt, das Kinn auf die Brust gesunken.

Als Ben auf ihn zuging, öffnete sich die Tür des behelfsmäßigen Kellerlabors, und sein dunkler Auftraggeber trat ein. Er blieb zwischen den beiden bewaffneten Wachen stehen, die die ganze Zeit über seine Fortschritte beaufsichtigt hatten.

„Ich hatte keine Gelegenheit, die Feuchtigkeit aus dem Zeug zu filtern“, entschuldigte sich Ben für den Becher mit der zähflüssigen Schmiere, die er hergestellt hatte. Er betete, dass er das Rezept richtig hinbekommen hatte. „Dieser Bursche ist nicht gerade in bester Verfassung. Was ist, wenn er es nicht schlucken kann?“

Es gab keine Antwort, nur abwägendes, tödliches Schweigen.

Ben stieß nervös die Luft aus, näherte sich dem jungen Mann und ging vor dem Stuhl in die Hocke. Unter den Strähnen seiner ungekämmten Haare öffneten sich kraftlose Augen zu schmalen Schlitzen und schlossen sich wieder. Ben starrte in das verzerrte, blasse Gesicht. Ein Häufchen Elend, das wahrscheinlich einmal ein gut aussehender junger Mann gewesen war …

O … Scheiße.

Er kannte den Jungen, kannte ihn aus der Clubszene. Ein ordentlicher, regelmäßiger Kunde. Und im Übrigen auch genau das lächelnde, jugendliche Gesicht, das er letzte Nacht auf einem Foto gesehen hatte. Cameron? Oder Camden? Camden! Der Bursche, den Ben für den Irren mit den Fangzähnen aufspüren sollte -  für den Mann, der versprochen hatte ihn zu töten, wenn er nicht mitspielte. Nicht dass diese Drohung wesentlich schlimmer war als die, der er sich jetzt gegenübersah.

„Lassen Sie uns weitermachen, Mr. Sullivan.“

Ben löffelte etwas von dem rohen Crimson aus dem Becher und hielt es dem Jungen an den Mund. Sowie die Substanz seine Lippen berührte, schoss die Zunge schlangenartig hervor. Er schloss seinen Mund um den Löffel und lutschte ihn sauber. Für einen Moment schienen seine Lebensgeister wieder geweckt. Ein angefütterter Junkie, dessen einzige Hoffnung der nächste Schuss war, wurde Ben klar, und ein nagendes Schuldgefühl peinigte ihn.

Ben wartete, dass die verheerende Wirkung von Crimson einsetzte.

Nichts geschah.

Er gab Camden mehr, und dann noch ein bisschen mehr.

Immer noch nichts. Verdammt. Die Rezeptur stimmte nicht.

„Ich brauche mehr Zeit“, murmelte Ben, als der Kopf des Jungen mit einem Stöhnen schlaff nach hinten fiel. „Ich hab’s fast, ich muss es bloß noch mal versuchen.“

Er erhob sich, drehte sich um und erschrak heftig, als sein furchteinflößender Schirmherr direkt vor ihm stand. Ben hatte keinerlei Bewegung wahrgenommen, dennoch war er plötzlich da und ragte bedrohlich vor ihm auf. Ben sah sein eigenes erbärmliches Spiegelbild im Glas der Sonnenbrille. Es sah verzweifelt und erschrocken aus, wie eine in die Ecke getriebene Beute vor einem wilden Raubtier.

„Das führt zu nichts, Mr. Sullivan. Und ich verliere langsam die Geduld.“

„Sie sagten zwei Stunden“, merkte Ben an. „Ich habe noch ein paar Minuten …“

„Nicht verhandelbar.“ Der grausame Mund verzog sich zu einem höhnischen Grinsen und ließ die Spitzen seiner scharfen, weißen Fangzähne sehen.

„Die Zeit ist um.“

„O Gott.“ Ben prallte zurück und stieß gegen den Stuhl hinter ihm, der mit dem gefesselten Jungen auf quietschenden Rädern wegrollte. Ben stolperte, fiel hin und versuchte kriechend weiter weg zu kommen. Da krallten sich kräftige Finger in seine Schultern, hoben ihn in die Luft, als wäre er gewichtslos, schleuderte ihn herum und warfen ihn gegen die Wand.

Unerträglicher Schmerz schoss durch seinen Hinterkopf, und er sackte zusammen wie ein zerknautschter Haufen. Benommen fasste er sich an den Kopf und sah dann seine Hand an. Die Finger waren voller Blut.

Als er seinen verschwommenen Blick auf die anderen im Raum richtete, zog sich sein Herz vor Angst zusammen. Beide Wachen starrten ihn an, ihre Pupillen zu dünnen Schlitzen verengt, fixierten ihn mit glühenden, bernsteinfarbenen Augen wie Flutlichter. Einer von ihnen öffnete mit einem kratzenden Fauchen den Mund und zeigte seine bloßen, riesigen Fangzähne.

Sogar Camdens Aufmerksamkeit war aus mehreren Metern Entfernung geweckt. Die Augen des Jungen glommen unter den Strähnen seiner Haare auf, seine Lippen kräuselten sich und gaben lange, schimmernde Reißzähne frei.

So angsteinflößend all diese Fratzen auch waren, sie waren nichts im Vergleich zu dem eiskalten Herannahen dessen, der hier das Sagen hatte. Er schlenderte auf seinen polierten schwarzen Schuhen geräuschlos über den Betonboden auf Ben zu. Er hob seine Hand, und Ben stieg in die Luft und wurde wieder auf die Füße gestellt, als hinge er an unsichtbaren Fäden.

„Bitte“, keuchte Ben und schnappte nach Luft. „Was Sie auch vorhaben, bitte … tun Sie es nicht. Ich kann die Formel besorgen, ich schwöre es Ihnen. Ich werde tun, was immer Sie verlangen!“

„Ja, Mr. Sullivan. Das werden Sie.“

Er bewegte sich so schnell, dass Ben nicht wusste, wie ihm geschah, bis er den harten Biss der Fangzähne in seinem Hals spürte. Ben wand sich, schmeckte sein eigenes Blut, das aus der Wunde lief, hörte die nassen, schmatzenden Geräusche der Kreatur, die sich tief in seine Arterie grub. Bens Kampfgeist nahm mit jedem saugenden Zug ab. Schwebend hing er an der Wand und fühlte, wie das Leben aus ihm wich; fühlte, wie Bewusstsein und Wille sich ausblendeten. Er lag im Sterben, und alles, was ihn einmal ausgemacht hatte, flog weg von ihm in einen Abgrund aus undurchdringlicher Dunkelheit.

 

„Komm schon, Harvard, oder wie auch immer du wirklich heißt“, sagte Tess und führte den kleinen Terrier über die Straße, als die Ampel auf Grün umsprang.

Nachdem sie um achtzehn Uhr die Klinik dichtgemacht hatte, beschloss sie, einen Spaziergang zu Bens Wohnung im Süden der Stadt zu unternehmen. Es war ein letzter Versuch, ihn selbst zu finden, bevor sie bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgab. Wenn er wieder im Drogengeschäft war, hatte er es verdient, eingesperrt zu werden. Doch tief in ihrem Innern sorgte sie sich um ihn und wollte versuchen, auf ihn einzuwirken, damit er sich professionelle Hilfe holte, bevor die Dinge noch weiter eskalierten.

Bens Wohnviertel war keine nette Gegend, schon gar nicht, wenn es dunkel war, doch Tess hatte keine Angst. Viele ihrer Klienten stammten aus diesem verrufenen Stadtteil, alles gute, hart arbeitende Menschen. Es hatte sogar eine gewisse Ironie: Wenn in diesem Komplex aus dicht an dicht stehenden Mietskasernen jemand Gefährliches hauste, dann war das wohl am ehesten der Dealer aus Apartment 3b des Gebäudes, vor dem Tess jetzt stand.

Ein Fernseher plärrte aus einer Wohneinheit im ersten Stock und warf ein gespenstisches blaues Licht auf den Gehweg. Tess sah hinauf zu Bens Fensterreihe und suchte nach Anzeichen dafür, dass er zu Hause war. Die schäbigen weißen Jalousien an den Balkon-Schiebetüren und am Schlafzimmerfenster waren heruntergezogen und geschlossen. Die ganze Wohnung lag im Dunkeln. Weder irgendeine Bewegung noch das kleinste bisschen Licht waren in dem Apartment auszumachen.

Oder … war da nicht …?

Obwohl es schwer zu sagen war, hätte sie schwören können, dass eine der Blenden gegen das Fenster gedrückt wurde -  als hätte jemand sie bewegt oder wäre an ihnen vorbeigegangen und hätte sie dabei achtlos berührt.

War es Ben? Wenn er zu Hause war, wollte er offensichtlich nicht, dass irgendjemand es erfuhr, sie inbegriffen. Er hatte nicht auf ihre Anrufe reagiert und auch keine ihrer E-Mails beantwortet; warum also sollte sie annehmen, dass es ihm recht war, wenn sie hier auftauchte?

Und wenn er nicht zu Hause war? Was, wenn jemand eingebrochen war? Was, wenn es einer seiner Drogenkontakte war, der auf seine Rückkehr wartete? Was, wenn jetzt gerade jemand oben die Wohnung auf den Kopf stellte und das Flashdrive suchte, das sie in ihrer Manteltasche hatte?

Tess wich von dem Gebäude zurück. Ein ängstliches Kribbeln arbeitete sich ihre Wirbelsäule empor. Verkrampft hielt sie Harvards Leine in der Hand und zerrte ihn schweigend von den dürren, kahlen Sträuchern weg, die den Gehweg säumten.

Dann sah sie es wieder -  eindeutig eine Bewegung der Jalousie. Nun glitt eine der Schiebetüren auf dem dunklen Balkon zur Seite, jemand tat heraus. Dieser Jemand war monströs -  und definitiv nicht Ben.

„O Scheiße“, flüsterte sie atemlos. Sie bückte sich und nahm den Hund hoch, falls sie unvermittelt schnell rennen musste.

Dann kehrte sie dem Gebäude den Rücken.

Leise hastete sie den Gehweg entlang und warf ab und an einen gehetzten Blick über die Schulter. Der Kerl stand noch am Geländer des klapprigen Balkons und spähte hinaus in die Dunkelheit. Sie spürte, dass die wilde Hitze seines Blicks die Nacht durchdrang wie eine Lanze. Seine Augen waren unglaublich hell … sie glühten.

„O mein Gott.“

Tess rannte los, vom Gehweg auf die Straße. Als sie zu Bens Haus zurückblickte, kletterte der Mann im dritten Stock eben über das Geländer; zwei weitere Männer tauchten hinter ihm auf. Der erste schwang seine Beine über den Rand, stieß sich ab und setzte geschickt wie eine Katze auf dem Rasen auf. Mit unfassbarem Tempo kam er hinter ihr her. Seine Geschwindigkeit ließ ihre Bewegungen wie Zeitlupe erscheinen. Ihre Füße bewegten sich so schleppend, als steckte sie in Treibsand fest.

Tess drückte Harvard fest an sich und jagte zwischen den am Randstein geparkten Autos hindurch auf die andere Straßenseite. Sie schaute sich noch einmal um, stellte fest, dass ihr Verfolger nicht mehr zu sehen war und schöpfte für den Bruchteil einer Sekunde neue Hoffnung.

Als sie wieder nach vorn sah, bemerkte sie, dass er irgendwie plötzlich vor ihr war. Keine fünf Schritte von ihr entfernt, versperrte er ihr den Weg. Wie war er so schnell dort hingekommen? Sie hatte ihn nicht einmal gesehen oder auch nur seine Schritte auf dem Gehweg gehört.

Er reckte seinen gewaltigen Schädel und schnüffelte in der Luft wie ein Tier. Er -  oder vielmehr es, denn was auch immer das war, es war weit davon entfernt, menschlich zu sein -  begann tief in seiner Brust heiser zu lachen.

Tess wich zurück, hölzern und ungläubig. Dies passierte gar nicht. Es konnte nicht sein. Es musste sich um einen kranken Scherz handeln. Es war unmöglich.

„Nein.“ Sie ging rückwärts, weiter und weiter, und schüttelte ungläubig den Kopf.

Der große Mann setzte sich in Bewegung, kam auf sie zu.

Tess’ Herz raste in Panik, Adrenalin schoss durch ihren Körper.

Sie drehte sich auf dem Absatz um und jagte davon …

Ein weiterer entsetzlich aussehender Mann kam zwischen den Autos hervor und stellte sich ihr in den Weg.

„Hallo Schönheit“, sagte er in schroffem, bösartigem Ton.

Im fahlen Licht der Straßenbeleuchtung blieb Tess’ Blick am geöffneten Mund dieses Kerls hängen. Seine Lippen kräuselten sich und entblößten ein riesiges Paar Fangzähne.

Tess ließ den Hund aus ihrem schlaffen Griff fallen und stieß einen schrecklichen, markerschütternden Schrei aus, der die Nacht zerriss.

 

„Fahr da vorne links“, sagte Dante vom Rücksitz des Range Rovers zu Tegan. Chase saß hinten, als warte er auf seine Hinrichtung. Eine Erwartung, die Dante jetzt allerdings noch etwas hinauszögerte. „Lass uns noch einen Abstecher in den Süden machen, bevor wir ins Quartier fahren.“

Tegan nickte grimmig und bog an der Ampel ab. „Denkst du, der Dealer könnte zu Hause sein?“

„Ich weiß nicht. Ist dennoch einen Blick wert.“

Dante rieb sich eine merkwürdig kalte Stelle, die hinter seinem Brustbein saß. Es war ein seltsames Gefühl, das auf seine Lungen drückte und ihm das Atmen erschwerte. Die Empfindung war eher abstrakt als körperlich, ein heftiges Zwicken seiner Instinkte, das ihn in höchste Alarmbereitschaft versetzte.

Er drückte den automatischen Fensterheber an seiner Seite, sah zu, wie das dunkle Glas herabglitt, und atmete die kalte Nachtluft ein.

„Alles in Ordnung?“, fragte Tegan mit tiefer Stimme vom abgedunkelten Cockpit des Geländewagens her. „Willst du deine Aktion von neulich wiederholen?“

„Nein.“ Dante schüttelte vage den Kopf und schaute aus dem offenen Fenster; beobachtete den Verkehr und die verschwommenen Lichter. Nun blieben die Gebäude des Geschäftsviertels hinter ihnen zurück, die alte Wohngegend im südlichen Boston kam in Sicht. „Nein, dies ist … etwas anderes.“

Der verdammte kalte Knoten in seiner Brust bohrte sich tiefer und wurde eisig, obwohl seine Handflächen schwitzten. Sein Magen krampfte sich zusammen. Adrenalin entlud sich in seinen Venen mit einer plötzlichen, ruckenden Flut.

Was zur Hölle …?

Es war Furcht, die durch ihn hindurchrauschte, wie er jetzt erkannte. Panische Todesangst. Nicht seine eigene, sondern die von jemand anderem.

Hölle und Verdammnis.

„Halt den Wagen an.“

Es war Tess’ Angst, die er spürte. Ihr Schrecken erreichte ihn über die Blutsverbindung, die sie teilten. Sie war da draußen in Gefahr. In Lebensgefahr!

„Tegan, halt den verdammten Wagen an!“

Der Krieger trat auf die Bremse, riss das Lenkrad hart nach rechts und ließ den Rover kaltschnäuzig auf den Absatz der Böschung schleudern. Sie waren nicht allzu weit von Ben Sullivans Wohnung weg; sein Apartment konnte nicht mehr als ein halbes Dutzend Häuserblocks entfernt liegen -  aber doppelt so weit, wenn sie sich mit dem Wagen durch das Labyrinth der Einbahnstraßen und Ampelschaltungen von hier nach dort navigieren mussten.

Dante riss die Tür auf und sprang auf den Gehweg. Er sog die Luft tief in seine Lungen und betete darum, die Witterung ihres Dufts aufnehmen zu können.

Da war es.

Er konzentrierte sich auf die zimtig-süße Note unter den tausend anderen vermischten Gerüchen in der frostigen nächtlichen Brise. Die Blutfährte von Tess war sehr schwach, wurde aber rasch stärker -  viel zu stark.

Dantes Blut gefror.

Irgendwo nicht weit von da, wo er stand, blutete Tess.

Tegan lehnte sich über den Sitz, den kräftigen Unterarm über das Lenkrad gelegt und sah mit scharfem Blick zu Dante auf.

„Dante, Mann -  was soll der Scheiß? Was ist los?“

„Keine Zeit“, sagte Dante. Er drehte sich zum Wagen und schmiss die Tür zu. „Ich mach mich zu Fuß auf den Weg. Schaff ihn zu Sullivans Wohnung. Das liegt …“

„Ich kenne den Weg“, sagte Chase vom Rücksitz aus und begegnete Dantes Blick durch das offene Fenster. „Mach schon.

Wir sind gleich hinter dir.“

Dante nickte den ernsten Gesichtern einmal zu, drehte sich um und rannte in einem höllischen Tempo los.

Er raste durch Höfe, sprang über Zäune, spurtete durch enge Durchgänge, zog alle Register seiner übermenschlichen Geschwindigkeit. Für die Menschen, an denen er vorbeischoss, war er nichts als ein kalter Luftzug, ein Hauch vom eisigen Novemberwind auf ihren Gesichtern, als er über sie hinweg- und um sie herumraste, einzig und allein auf eines konzentriert: Tess.

Noch eine halbe Seitenstraße runter und er war in Sullivans Wohnblock. In diesem Moment sah Dante den kleinen Terrier, den Tess mit ihren heilenden Händen vom Rand des Todes zurück ins Leben geholt hatte. Der Hund lief allein über den Gehweg und zog die schlaffe Leine hinter sich her.

Ein verdammt schlechtes Zeichen, aber Dante wusste immerhin, dass er jetzt ganz in der Nähe war.

„Tess!“, rief er und betete, dass sie ihn hören konnte.

Betete, dass er nicht zu spät kam.

Er bog um die Ecke eines dreistöckigen Hauses und sprang über liegen gelassene Fahrräder und Spielzeug, das vor dem Haus verstreut war. Ihr Blutduft wurde stärker, Furcht trommelte gegen seine Schläfen.

„Tess!“

Er verfolgte sie wie der Leitstrahl eines Lasers, raste in blinder Panik, als er das tiefe Schnüffeln und Grunzen von Rogues vernahm, die um Beute stritten.

Hölle und Verdammnis. Nein!

Auf der anderen Straßenseite, gegenüber dem Haus, wo Sullivan wohnte, lag Tess’ Handtasche am Bordstein, der Inhalt auf dem Gehweg verstreut. Dante drehte nach rechts ab und rannte einen ausgetretenen Pfad entlang, der zwischen zwei Häusern hindurchführte. Am Ende des Trampelpfads stand ein Schuppen, die Tür schwang träge in den Angeln.

Tess war da drin. Dante wusste es mit einer so tiefen Furcht, dass seine Schritte ins Stocken kamen.

Kurz bevor er den Schuppen erreichte und ihn mit seinen bloßen Händen niederreißen konnte, trat hinter ihm ein Rogue aus dem Schatten und stürzte sich sekundenschnell auf ihn.

Dante drehte sich im Fallen, griff eine seiner Klingen und zog sie dem Dreckskerl quer durch das Gesicht. Der Rogue gab ein schauerliches Kreischen von sich und ließ von ihm ab, als sein verdorbener Blutkreislauf eine Kostprobe des tödlichen Titanstahls bekam. Dante rollte sich aus seiner geduckten Haltung und schnellte auf die Füße, während sich der Rogue in Todesqual verkrampfte und zügig in Verdampfung überging.

Auf der Straße röhrte der Motor des schwarzen Range Rovers und kam schlingernd zum Stehen. Ein weiterer Rogue kam aus der Dunkelheit, doch ein Blick auf Tegans eisige Miene genügte, und er entschloss sich, in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. Der Krieger machte einen Satz wie eine große Katze und nahm springend die Verfolgung auf.

Chase musste in Sullivans Wohnung weiteren Ärger gesichtet haben, da er seine Pistole entsichert hatte und -  kaum wahrnehmbar, als wäre er getarnt -  über die Straße rannte.

Dante nahm all das kaum wahr. Er eilte auf die schrecklichen Geräusche zu, die aus dem Schuppen drangen. Die nassen, glitschigen Laute der Nahrungsaufnahme von Vampiren waren ihm nicht fremd, aber die Vorstellung, dass sie Tess verletzen könnten, schraubte seine Wut in nukleare Dimensionen. Er stürmte zu der klappernden Schuppentür und riss sie mit einer Hand auf. Die Tür segelte quer nach hinten auf die leere Parzelle und war augenblicklich vergessen.

Zwei Rogues hielten Tess auf den Boden des Nebengebäudes gedrückt; einer saugte an ihrem Handgelenk, der andere machte sich an ihrem Hals zu schaffen. Sie lag bewegungslos unter ihnen; so reglos, dass Dantes Herz vor Entsetzen gefror, als er die Situation überblickte. Er fühlte, dass sie noch lebte. Er konnte ihren schwachen Puls als leichtes Echo in seinen eigenen Adern hören. Noch wenige Sekunden, und sie hätten sie ausgeblutet.

Dante stieß ein Gebrüll aus, das die umliegenden Gebäude erschütterte. Seine Wut kochte über und brach aus ihm heraus wie ein schwarzer Sturm. Der Vampir an Tess’ Handgelenk prallte mit einem Fauchen zurück, ihr Blut lief ihm über die aufgeworfenen Lippen und färbte seine Fänge scharlachrot. Der Rogue drehte sich mitten in der Luft, flog hoch in die Ecke der Decke und hing dort wie eine Spinne.

Dante verfolgte den Blitz der Bewegung, zog eine Malebranche-Klinge   und jagte sie durch die Luft. Die aus Titan geschmiedete Waffe durchbohrte den Hals des Rogues, der kreischend zu Boden stürzte. Dante richtete seinen Hass auf den Größeren, der sich aufgerichtet hatte und ihn herausforderte, ihm seine Beute streitig zu machen.

Der Rogue duckte sich vor Tess’ schlaffen Körper und funkelte Dante mit entblößten Fängen und wilden gelben Augen an. Der Kerl schien unter seiner Blutgier noch jung, die ihn in eine Bestie verwandelt hatte. Wahrscheinlich war er einer der vermissten Zivilisten aus dem Dunklen Hafen.

Es spielte keine Rolle -  nur ein toter Rogue war ein guter Rogue -  und ganz besonders dieser, der seine Hände und seinen Mund überall auf Tess gehabt und ihr kostbares Leben aus ihr herausgesaugt hatte.

Und sie vielleicht bereits getötet hatte, wenn Dante sie nicht schnell hier rausschaffte.

Sein Blut schrie gellend in seinen Muskeln; der Schmerz von Tess und auch ein Schmerz, der gänzlich seiner war, elektrisierten ihn für den Kampf. Dante legte seine Fänge bloß und stürzte sich mit Gebrüll auf den Rogue. Er wollte am liebsten ein Blutbad anrichten, höllische Vergeltung üben, den Scheißkerl Stück für Stück in Fetzen reißen, ehe er ihn mit einer seiner Klingen ausweidete. Doch das hatte jetzt keine Priorität. Das Einzige, was zählte, war Tess zu retten.

Er packte den zuschnappenden Rachen des Rogues, hebelte seinen Arm hinein und riss ihn hart runter, bis Knochen brachen und Sehnen zerrissen. Als der Mistkerl aufschrie, nahm Dante eine Klinge in die freie Hand und stieß den Stahl in die Brust des Rogues. Den brutzelnden Leichnam stieß er beiseite und eilte zu Tess.

„O Gott.“ Er kniete sich neben sie und hörte ihren schwachen und flachen Atem. Die Wunde an ihrem Handgelenk war hässlich, doch die an ihrem Hals war dramatisch. Ihre Haut war bleich wie Schnee und kühl bei Berührung, als er ihre Hand an seinen Mund führte und ihre schlaffen Finger küsste. „Tess …

halte durch, mein Engel. Ich habe dich … ich bring dich hier raus.“

Er hob sie auf, drückte sie sehr sanft an sich und trug sie hinaus ins Freie.

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